Verdaulichkeit und Nährwert von Lebensmitteln – wie ist das verlinkt?

Die Absorption der Lebensmittel via Darmschleimhaut kann im Labor gemessen werden mittels menschlicher Zellen aus dem Verdauungstrakt.

Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung ist eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen unerlässlich, damit der Nahrungsbedarf weiterhin gedeckt werden kann. Es ist deshalb wichtig, die Qualität der Lebensmittel im Hinblick auf deren Eignung zu prüfen, den Organismus in effizienter Weise mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen. In diesem Zusammenhang bedeuten die von Agroscope – in Zusammenarbeit mit seinen europäischen Partnern – entwickelten In-vitro-Systeme zur Untersuchung der Verdauung und des Transports von Nährstoffen im Verdauungstrakt einen wichtigen Fortschritt.

Die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz kennen sich gut aus mit den Nährwerten, die auf den Etiketten der meisten auf dem Markt angebotenen Lebensmittel aufgeführt sind. Zu diesen Informationen gehören die Mengen der im betreffenden Lebensmittel vorkommenden Makronährstoffe (Proteine, Kohlenhydrate, Lipide) und Mikronährstoffe (Vitamine und Mineralstoffe). Aufgrund dieser Angaben lassen sich die Mengen der einzelnen Lebensmittel feststellen, die für eine ausgeglichene Ernährung erforderlich sind. Entsprechen aber eigentlich die auf den Etiketten angegebenen Nährwerte wirklich den Mengen, die schlussendlich von unserem Organismus verwertet werden? Mit anderen Worten: Wie stark beeinflusst die Bioverfügbarkeit der Nährstoffe den Nährwert der Lebensmittel, in denen sie enthalten sind? 

Der Einfluss der Verdauung

Um diese Frage zu beantworten, müssen die verschiedenen Verdauungsschritte vom Mund (kauen) über die Magen- und Darmpassage (verdauen) bis zum Nährstofftransport (aufnehmen) berücksichtigt werden. Die Bioverfügbarkeit der Nährstoffe hängt also auch ab von der Qualität der Verdauung, vom Transport durch den Magen-Darm-Trakt und von der metabolischen Aktivität der Darmflora (Gesamtheit der Mikroorganismen, die den Darm besiedeln). Diese Parameter können aufgrund einer Vielzahl beteiligter genetischer und phänotypischer Merkmale (wie Laktoseintoleranz oder Alter) nicht nur von Person zu Person variieren, sondern aufgrund makro- oder mikroskopischer Eigenschaften auch von Lebensmittel zu Lebensmittel. In der Lebensmittelwirtschaft gewinnen verarbeitete Produkte weiter an Bedeutung. Die Veränderung der Struktur der Lebensmittel bei einer solchen Verarbeitung kann wiederum deren Nährwert beeinflussen. 

Bioverfügbarkeit und fermentierte Lebensmittel

Fermentierte Milchprodukte bieten eine einmalige Möglichkeit, die Auswirkungen der Lebensmittelverarbeitung auf die Bioverfügbarkeit der Nährstoffe zu untersuchen. Ein konkretes Beispiel: Bei Vollmilch und Nature-Joghurt sind die enthaltenen Nährstoffe zwar ähnlich. Wie stark wirkt sich aber die Verarbeitung der Milch auf die Bioverfügbarkeit dieser Nährstoffe aus? Seit 2009 setzt Agroscope Milchprodukte als Modell-Lebensmittel ein und untersucht diese Fragen sorgfältig im Rahmen verschiedener Projekte und zahlreicher Kooperationen.

Mit Ernährungsstudien wurden die Auswirkungen der Fermentation von Milch zu Joghurt oder zu Käse auf den Nährwert für den menschlichen Organismus untersucht. Dabei wurde insbesondere die Bioverfügbarkeit der Nährstoffe berücksichtigt, da aus Lebensmitteln gewonnene Nährstoffe im Allgemeinen nur vom Organismus genutzt werden können, wenn diese vorher effizient aufgenommen werden. Diese Studien hatten also zum Ziel, die in fermentierten Milchprodukten vorhandenen Nährstoffe und Metaboliten nachzuweisen, die nach der Verdauung dieser Produkte im Blut und Urin der betreffenden Personen erscheinen. 

Das Zeitalter der Metabolomik

Im Laufe der fünf vergangenen Jahre hat sich die Zahl der Metabolomik-Forschungsprojekte auf Grund eindrücklicher Fortschritte in der mit Massenspektrometrie gekoppelten Gas- und Flüssigchromatographie vervielfacht. Dadurch lassen sich nun gleichzeitig Tausende von Molekülen nachweisen, was einer eigentlichen Revolution gleichkommt, die mit der Entwicklung der Technologien zur DNA-Sequenzierung vergleichbar ist. Während die DNA-Sequenzierung zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms führte (Genotyp), ermöglicht die Metabolomik wohl schon bald die Erfassung der gesamten Produkte des menschlichen Metabolismus – der Metaboliten also, welche die abschliessenden Akteure aller biologischen Systeme sind (Phänotyp).

Mit den Projekten von Agroscope konnten mehrere Tausend Moleküle quantifiziert werden, die im Blut freiwilliger Probanden nach der Einnahme von Milch oder Joghurt erscheinen. Ein bedeutender Teil dieser Moleküle – namentlich die essenziellen Aminosäuren – stammt direkt aus diesen Nahrungsmitteln, tritt aber erst im Blut auf, nachdem diese vom menschlichen Organismus verdaut wurden. Ein weiterer Teil dieser Moleküle ist spezifisch auf fermentierte Milchprodukte zurückzuführen und gelangt direkt ins Blut. Mehr als hundert Moleküle, die nur entweder in Milch oder Joghurt vorkommen, wurden in den Stunden nach dem Genuss dieser Nahrungsmittel im Blut der gesunden Personen gemessen. Wenn während zwei Wochen auf den Genuss eines dieser beiden Produkte ganz verzichtet wurde, ermöglichte die Analyse des Metaboloms im Blut die Identifikation mehrerer Dutzend Metaboliten, die nur bei der Verdauung von Milch bzw. Joghurt entstehen. Gegenwärtig wird in Studien untersucht, ob sich die Metaboliten, die bei diesen Probanden nach der Verdauung fermentierter Milchprodukte identifiziert wurden, im Sinne neuer ernährungsphysiologischer Eigenschaften deuten lassen, die spezifisch durch den Prozess der Fermentation der Milch entstehen. Diese neuartigen Ergebnisse leiten eine neue Ära in der Beurteilung der Qualität von Lebensmitteln ein, insbesondere bezüglich der Auswirkungen ihrer technologischen Verarbeitung auf den menschlichen Metabolismus. 

Die In-vitro-Verdauung als Informationsfilter

In diesem Zusammenhang möchte Agroscope die ernährungsphysiologischen Eigenschaften von Nahrungsmitteln untersuchen, die mit Hilfe von Kulturen fermentiert werden, die aus der Liebefelder Stammsammlung ausgewählt sind. Da diese Sammlung mehr als 10 000 Stämme enthält, ist es nicht möglich, für jeden dieser Stämme eine Interventionsstudie am Menschen zu einem fermentierten Milchprodukt durchzuführen, das mithilfe des entsprechenden Stammes hergestellt wurde. Agroscope hat unter Verwendung von Milch als Modell-Lebensmittel- entscheidend zur Entwicklung einer Methode für die In-vitro-Verdauung beigetragen, die auf europäischer Ebene harmonisiert ist. Diese Arbeiten haben über die Verknüpfung des In-vitro-Prozesses mit punktuellen Analysen der Nährstoffe zu einem detaillierten Verständnis der Verdaubarkeit von Milchprodukten geführt. Sie haben auch gezeigt, dass die Umwandlung der Milchprodukte durch die Fermentation eine Wirkung auf die Geschwindigkeit des Abbaus der Milchproteine in Peptide und Aminosäuren hat.

Zur Ergänzung dieses Verdauungsmodells hat Agroscope im Labor ein System zum Transport im Verdauungstrakt entwickelt, das auf einer Kultur menschlicher Zellen des Verdauungssystems beruht, die eine undurchdringliche Barriere für den Transport der Nährstoffe darstellen. Bei der Analyse der in diesem System verdauten Milchprodukte ergaben sich Hinweise darauf, dass bestimmte aus Milchproteinen stammende Peptide spezifisch über die Darmbarriere transportiert werden. Indem diese Ergebnisse die bisherige Annahme in Frage stellen, dass die Darmbarriere nur Aminosäuren und kurze Peptide passieren lässt, eröffnen sie eine neue Richtung der Ernährungsforschung.

Joghurt
Deklaration der Inhaltsstoffe auf einer Lebensmittelverpackung – für Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten Alltag und ein nützliches Instrument, um die eigene Ernährung zu optimieren.
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In-vitro-Verdauung: Mit dieser Methode bekommt man Hinweise darüber, wie gut die einzelnen Inhaltsstoffe von einem Lebewesen verdaut werden können (zweites Bild: fotolia).
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Mit der Metabolomik wollen Forschende in Zukunft messen können, wie Lebensmittel-Inhaltsstoffe auf den Stoffwechsel des Menschen wirken.

Projekte und Zusammenarbeit

Agroscope beteiligt sich aktiv an zahlreichen Kooperationsprojekten, namentlich an den Projekten «NutriChip» (im Rahmen des Programms nano-tera.ch) und F3 (=Function Fermented Food) in Zusammenarbeit mit der EPFL (NutriChip) und dem Universitätsspital Lausanne CHUV (F3), sowie an den europäischen Projekten FoodBAll und Infogest, Letzteres gehört  zum COST Programm . Ziel dieser Programme ist insbesondere die Entwicklung von Forschungswerkzeugen, mit denen die Bioverfügbarkeit von Nährstoffen untersucht werden kann.